BSG, Beschluss v. 26.04.2022 – B 9 V 39/21 B
LSG Hessen, Urteil v. 21.10.2021 – L 1 VE 4/20
Was ist ICD-11 bzw. ICD-10?
Die medizinischen Diagnosen werden in Arztbriefen, Überweisungsscheinen, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mittels Abkürzungen eingetragen. Die medizinische Diagnose dient aber z.B. auch als Grundlage für die Bemessung eines Schmerzensgeldanspruchs.
Der ICD-Code ist ein weltweit anerkanntes System, mit dem medizinische Diagnosen einheitlich benannt werden. ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”, auf Deutsch sinngemäß „Internationale Klassifikation der Krankheiten“. Im Januar 2022 ist die neue Version ICD-11 in Kraft getreten. Für eine Übergangsfrist von 5 Jahren sind aber ICD-11 und die Vorgänger-Version ICD-10 anwendbar.
Die ICD-11 enthält erstmals die Diagnose komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Der Begriff Komplexe PTBS (engl. Complex PTSD, C-PTSD) wurde für dieses Krankheitsbild erst 1992 durch die amerikanische Psychiaterin Judith Herman eingeführt. Im Diagnostikkatalog ICD-11, der 2022 in Kraft trat, wird die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) erstmals als eigenständige Diagnose genannt.
„Die KPTBS ist eine Störung, die sich entwickeln kann, nachdem man einem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen extrem bedrohlicher oder schrecklicher Natur ausgesetzt war, meist langanhaltende oder sich wiederholende Ereignisse, denen man nur schwer oder gar nicht entkommen kann.“ (zit. nach Maercker, Eberle, Verhaltenstherapie,2022,32:62-72).
Der neue Begriff stellt nicht mehr limitierend, monokausal auf ein Ereignis bzw. ein begrenztes Zeitlimit ab, sondern berücksichtigt, dass die Störungen/der Stressor ja gerade über einen längeren Zeitraum vorhanden sind. Ein Stressor kann auch ein Unfallereignis sein. Des Weiteren tritt hinzu, dass der Betroffene sich an einen Stressor (z.B. ein Unfallereignis), der aus dem „Nichts“ plötzlich da ist, mangels Vorhersehbarkeit oft gerade nicht anpassen kann. Die latent vorhandenen Störungen können durch eine ausgeprägte, wiederkehrende belastende Beschäftigung mit dem Stressor, mit exzessiven Sorgen, ein konstantes Gedankenkreisen über die Konsequenzen und durch ein wiederholtes Scheitern im Alltag charakterisiert sein.
Durch die wiederkehrenden gesundheitlichen Probleme muss sich der Betroffene wiederholt mit dem Stressor beschäftigen, ohne diesen dabei beherrschen zu können. Er bleibt mithin „Gefangener seines durch den Unfall veränderten Körpers“. Eine solche, Jahre andauernde Belastung und die immer vorhandenen Behinderungen im alltäglichen Leben können zu erheblichen psychischen Erkrankungen beim Betroffenen führen (wie z.B. die Entwicklung einer PTBS, Angsterkrankung, ggf. auch schweren depressiven Episode) und sind unzweifelhaft auf den Unfall zurückzuführen.
Eine PTBS setzt nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen (so auch klassifiziert in der ICD-11) somit nicht ein einmaliges Ereignis voraus, sondern kann auch das Ergebnis eines jahrelangen Krankheitsbildes bzw. wiederkehrender Stressfaktoren sein.
Wonach richtet sich, ob die Diagnose nach ICD-10 oder ICD-11 gestellt wird?
Für die Bearbeitung eines konkreten Falles kommt es also ganz entscheidend darauf an, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wird. Danach können sich nämlich ganz konträre Bewertungen ergeben. Zur Verdeutlichung, ein schwerwiegendes Unfallereignis aus dem Jahr 2019 wird erst im Jahr 2022 vor Gericht verhandelt. Welche ICD ist anzuwenden?
Das hat das BSG (Bundessozialgericht) ganz aktuell entschieden und festgestellt, dass „medizinische Fragen, insbesondere zur Verursachung von Gesundheitsstörungen, von einem Tatsachengericht auf der Grundlage des im Entscheidungszeitpunkt neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu beantworten (sind)“ – also nach der ICD 11 (!).
Wir von Mittelstädt + Partner wissen:
Die konsequente Anwendung der ICD-11 sowie die Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung des BSG werden dazu führen, dass eine Vielzahl von Fällen unter Umständen anders beurteilt bzw. bemessen werden müssen. Sprechen Sie uns gern an. Wir prüfen Ihren Fall.